Wie können Menschen für ein Engagement für Geflüchtete und mit Geflüchteten gewonnen werden?

Was bewegt Menschen dazu, sich freiwillig für andere im Kontext von Flucht und Migration zu engagieren? Und wie kann man das Wissen darüber nutzen, um Menschen für ein Engagement zu gewinnen? Sozialpsychologische Erkenntnisse helfen bei der Beantwortung dieser Fragen: Die Bereitschaft zum Engagement wird gefördert, wenn Personen einen Handlungsbedarf erkennen, Verantwortung übernehmen und wirksame eigene Handlungsmöglichkeiten sehen. Ebenfalls förderlich wirkt es sich aus, wenn es den Engagierten einen Mehrwert bietet, der ihren Wünschen und Bedürfnissen entspricht (z.B. etwas Neues lernen oder sich gebraucht fühlen). Schließlich kann auch der Wunsch, wahrgenommene Ungerechtigkeiten zu verändern ein wichtiger Beweggrund für Engagement sein.

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Was bewegt Menschen zu freiwilligen Engagements?

In Deutschland engagieren sich fast 40% der Menschen freiwillig.[1] Das heißt, sie tun aus freien Stücken und ohne berufliche Verpflichtung oder finanzielle Anreize etwas für andere Menschen oder eine Sache, die Ihnen am Herzen liegt. Doch was bewegt sie dazu? Um diese Frage zu beantworten, wurden verschiedene psychologische Modelle entwickelt. Zwei davon, die gemeinsam eine große Bandbreite einflussreicher Beweggründe für Engagement abdecken, sind das Normaktivationsmodell und der funktionale Ansatz.[2] Das Normaktivationsmodell[3] wurde ursprünglich entwickelt, um spontanes Hilfeverhalten zu erklären, lässt sich aber auch auf geplantes Hilfehandeln übertragen. Im Zentrum des Modells steht das Verpflichtungsgefühl, auf eine bestimmte Art zu handeln, zum Beispiel sich freiwillig zu engagieren. Hier zeigte sich, zum Beispiel, dass ein persönliches Verpflichtungsgefühl Menschen dazu bewegt blinden Kindern vorzulesen.3 Damit ein solches Verpflichtungsgefühl zustande kommt, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Es muss eine Not- oder Problemlage wahrgenommen werden, das heißt, man muss erkennen, dass Hilfe oder Unterstützung benötigt wird. (2) Die eigenen Einflussmöglichkeiten müssen positiv bewertet werden, das heißt, man muss den Eindruck haben, dass man dazu beitragen kann, an der problematischen Situation etwas zu verändern. Hierzu zählt, dass man sich dafür kompetent genug fühlt. Hemmend wirkt es sich aus, wenn man Angst hat etwas falsch zu machen. (3) Es muss Verantwortung dafür, entsprechend zu handeln, übernommen werden.[4] Zum Teil wird als vierte Voraussetzung genannt, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis günstig sein muss. Das bedeutet, dass man durch das Helfen eher positive als negative Folgen erwartet.[5]

Der funktionale Ansatz[6] wurde spezifisch für die Erklärung freiwilliger Engagements entwickelt und hat sich dafür auch vielfach bewährt (siehe auch Siem, 2018).[7],[8] Er geht davon aus, dass freiwillige Engagements für Menschen bestimmte Funktionen erfüllen, also bestimmte erwünschte Auswirkungen auf sie haben und ihnen somit einen Mehrwert bieten. Das können für den*die Einzelne*n gleich mehrere Funktionen in unterschiedlicher Gewichtung sein. Außerdem kann dasselbe Engagement bei unterschiedlichen Personen verschiedene Funktionen erfüllen. Dabei wird keine Wertung vorgenommen: Funktionen, bei denen ein Nutzen für die eigene Person im Vordergrund steht, werden weder als besser noch als schlechter angesehen als solche, bei denen das Wohlergehen anderer Menschen im Vordergrund steht. Denn beide können Engagements gleichermaßen motivieren. Es werden sechs Funktionen unterschieden: (1) Bei der Erfahrungsfunktion geht es darum, praktische Erfahrungen zu sammeln und neue Perspektiven zu gewinnen, zum Bespiel, indem man im freiwilligen Engagement lernt mit verschiedenen Menschen umzugehen und zusammenzuarbeiten. (2) Die Karrierefunktion thematisiert, dass man Fähigkeiten und Kontakte erwerben kann, die den beruflichen Erfolg fördern. (3) Die Schutzfunktion beschreibt die Möglichkeit, dass man sich selbst durch ein Engagement vor belastenden Einflüssen schützt, zum Beispiel indem das Engagement von eigenen Sorgen ablenkt. (4) Die Selbstwerterhöhungsfunktion erfasst, dass es möglich ist, das eigene Selbstwertgefühl durch das Engagement zu steigern, sich zum Beispiel wichtig und gebraucht zu fühlen. (5) Bei der sozialen Anpassungsfunktion geht es darum, dass man durch das Engagement die Erwartungen anderer Menschen erfüllen und sich einer Gruppe zugehörig fühlen kann, zum Beispiel, weil freiwilliges Engagement im persönlichen Umfeld besonders geschätzt wird. (6) Im Zentrum der Wertefunktion steht, dass man eigene Wertvorstellungen durch ein Engagement ausdrücken kann, wie dass es wichtig ist, anderen Menschen zu helfen.

Die Liste an Funktionen ist grundsätzlich offen für Erweiterungen. Sie wurde unter anderem durch eine soziale Gerechtigkeitsfunktion ergänzt, die das Bestreben erfasst, durch das Engagement ebendiese zu fördern.[9] Trotz ihrer Ähnlichkeit zur Wertefunktion ist sie spezifischer als diese und erweist sich in empirischen Untersuchungen als eigener Beweggrund. Außerdem decken die Modelle nicht alle möglichen Einflussfaktoren ab. Es kann natürlich weitere Beweggründe geben, die hier nicht erfasst werden.

Was bewegt Menschen zu freiwilligen Engagements für und mit Geflüchteten?

Die genannten Erklärungsmodelle gelten für freiwillige Engagements im Allgemeinen. Somit können sie auch auf Engagements im Kontext Flucht angewendet werden. Dass dies erfolgreich möglich ist, haben mehrere Studien gezeigt.[10],[11] Dabei sind die folgenden Erkenntnisse besonders aufschlussreich, um zu verstehen, was Menschen zu freiwilligen Engagements für und mit Geflüchteten bewegt:

Viele Engagierte berichten, dass Medienberichte über die Situation von Geflüchteten ausschlaggebend für die Aufnahme ihres Engagements waren.[12] Das kann so verstanden werden, dass diese Berichte das Problembewusstsein erhöht haben und die Notlage erkennbar machten. Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, die unter Umständen durch solche Berichte verstärkt wird, ist ein wichtiges Motiv für Engagements für und mit Geflüchteten. Diese äußert sich auch emotional als Empörung, zum Beispiel über den gesellschaftlichen Umgang mit Geflüchteten.[9] Ähnlich kann auch die Ablehnung als ungerecht empfundener politischer Zustände (Kritik an staatlicher Asylpolitik) und gesellschaftlicher Strömungen (Zeichen gegen Rassismus) Beweggrund für Engagement sein.[13] Zudem spielt es für die Bereitschaft sich für und mit Geflüchteten zu engagieren eine große Rolle, inwiefern man Geflüchteten Anspruch auf dieselbe Behandlung zuspricht wie anderen Mitbürger*innen oder Menschen aus dem eigenen Umfeld.[14] Weiterhin ist relevant, wie man sich die Notlage einer anderen Person erklärt. Empfindet man diese als nicht selbstverschuldet, schreibt den Betroffenen also keine eigene Verantwortung zu, empfindet man eher Mitleid. Dies wiederum begünstigt, dass man Hilfe leistet, zum Beispiel indem man sich entsprechend engagiert.[15],[16] Empirische Studien zum funktionalen Ansatz zeigen, dass vor allem die Werte- und die Erfahrungsfunktion wichtig sind, damit Menschen ein Engagement für und mit Geflüchteten weiterführen oder neu aufnehmen.[9] Schließlich wirken soziale Normen zugunsten von Engagements. Das heißt, wenn Menschen, die einem wichtig sind, sich selbst im Kontext Flucht engagieren oder solche Engagements erwarten, fördert dies eigenes Engagement.[10] Auch Migration in der eigenen Familiengeschichte erweist sich darüber hinaus als ein weiterer wichtiger Beweggrund.[17]

Was bedeutet das für die Gewinnung von Menschen für freiwillige Engagements für und mit Geflüchteten?

Mit dem Wissen darüber, was Menschen zu Engagement allgemein und speziell zu Engagement für und mit Geflüchteten motiviert, lassen sich konkrete Ansatzpunkte formulieren, die dazu beitragen können, Freiwillige für ein solches Engagement zu gewinnen:

  • Problembewusstsein stärken: Potentielle Freiwillige sollten zunächst darauf aufmerksam werden, dass ihre Hilfe benötigt wird. Mediale Berichterstattung kann hierbei hilfreich sein. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Probleme als so übermächtig wahrgenommen werden, dass sie Menschen lähmen, anstatt sie zu aktivieren. Das führt zur zweiten Folgerung.
  • Konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigen: Wenn Menschen konkret wissen, wie sie einen Beitrag leisten können, trägt das dazu bei, dass sie ihre eigenen Einflussmöglichkeiten positiv einschätzen und stärkt die Motivation zum Engagement.
  • Verantwortungsübernahme unterstützen: Hierzu ist es einerseits förderlich herauszustellen, wie wichtig der zusätzliche Beitrag neuer Freiwilliger ist. Auch wirkt es unterstützend, wenn man die geteilte Verantwortung mit anderen Akteur*innen, wie weiteren Freiwilligen, Organisationen oder auch Behörden, betont. Das beugt Überforderung vor und kann Vorbildcharakter haben.
  • Vorbilder nutzen: Menschen, in deren Umfeld es bereits Engagierte für Geflüchtete gibt, sind leichter für ein Engagement zu gewinnen.
  • Mehrwert von Engagements kommunizieren und Funktionen ansprechen: Besonders die Möglichkeiten, die ein Engagement bietet, um eigene Werte auszudrücken und sich für diese einzusetzen und neue Erfahrungen zu sammeln, sollten herausgestellt werden. Da dasselbe Engagement für unterschiedliche Menschen verschiedene Funktionen erfüllen kann, sollten diese in ihrer Vielfalt angesprochen werden, soweit sie tatsächlich durch das konkrete Engagement erfüllt werden können. Beispiele dafür sind die Einbindung in eine Gruppe oder die Möglichkeiten, berufsrelevante Kompetenzen zu erwerben. Wenn das Engagement den individuellen Zielen und Bedürfnissen der Freiwilligen entspricht, trägt das erheblich zur Zufriedenheit mit dem Engagement und seiner Aufrechterhaltung bei.
  • Gerechtigkeitswahrnehmungen einbeziehen: Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit ist ein wichtiger Beweggrund für Engagement. Daher ist es günstig zu zeigen, wie man durch Engagement zu mehr Gerechtigkeit beitragen kann und Menschen dazu anzuregen, Geflüchteten dieselben Ansprüche zuzugestehen wie anderen Mitbürger*innen auch. Zudem sollte herausgestellt werden, dass die Notlage Geflüchteter durch externe Ursachen verschuldet ist.
  • Emotionen ernst nehmen: Im Zusammenhang mit Gerechtigkeitswahrnehmungen, Wertvorstellungen und bei der Auseinandersetzung mit Fragen der Verantwortung sind auch Emotionen beteiligt (z. B. Empörung, Mitleid). Diese können sich förderlich oder hinderlich darauf auswirken, dass Menschen sich engagieren. Sie sollten daher in jedem Fall ernst genommen werden und es sollte achtsam mit ihnen umgegangen werden.

Für alle genannten Folgerungen gilt, dass sie auf die Situation und Werte der jeweiligen Freiwilligenorganisation angepasst werden sollten, so dass ihre Umsetzung als stimmig und nicht als „Masche“ erlebt wird.

Insgesamt gilt: Je besser man versteht, was freiwillige Engagements motiviert, umso besser kann man sie fördern. Der Dialog zwischen Engagierten, Organisierenden und Wissenschaft ist besonders wertvoll, um Beweggründe zu verstehen und dieses Wissen für die Gewinnung Engagierter nutzbar zu machen.

 

Auf einen Blick
• Wenn Personen ein Problem sowie wirksame Einflussmöglichkeiten zu dessen Behebung wahrnehmen, kann das die Bereitschaft für Engagement fördern.
• Die verschiedenen Möglichkeiten, die ein Engagement bietet, um für die Engagierten Funktionen im Sinne des funktionalen Ansatzes zu erfüllen, sollten herausgestellt werden.
• Gerechtigkeitswahrnehmungen und damit verbundene Emotionen haben einen zentralen Einfluss auf die Motivation für ein Engagement für Geflüchtete und mit Geflüchteten.

 

Literatur

[1] Simonson, J., Kelle, N., Kausmann, C., & Tesch-Römer, C. (2022). Einleitung: Zwanzig Jahre Deutscher Freiwilligensurvey. In J. Simonson, N. Kelle, C. Kausmann & C. Tesch-Römer (Hrsg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland: Empirische Studien zum bürgerschaftlichen Engagement. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35317-9_2

[2] Strubel I. T., Schütt S. C., & Kals E. (2021). Soziale Engagements. In P. Genkova (Hrsg.), Handbuch Globale Kompetenz. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30684-7_74-1

[3] Schwartz, S. H. (1977). Normative influences on altruism. In L. Berkowitz (Hrsg.), Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 10, S. 221-279). Academic Press. https://doi.org/10.1016/S0065-2601(08)60358-5

[4] Steg, L., & de Groot, J. (2010). Explaining prosocial intentions: Testing the causal relationships in the norm activation model. British Journal of Social Psychology, 49(4), 725-743. https://doi.org/10.1348/014466609X477745

[5] Werth, L., Seibt, B., & Mayer, J. (Hrsg.) (2020). Sozialpsychologie- Der Mensch in sozialen Beziehungen. Kapitel 6. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-53899-9_6

[6] Clary, E. G., Snyder, M., Ridge, R. D., Copeland, J., Stukas, A. A., Haugen, J., & Miene, P. (1998). Understanding and assessing the motivations of volunteers: A functional approach. Journal of Personality and Social Psychology, 74(6), 1516-1530. https://doi.org/10.1037/0022-3514.74.6.1516

[7] Siem, B. (2018). Wie können Organisationen dazu beitragen, dass Ehrenamtliche sich langfristig engagieren und nicht demotiviert werden? – Der funktionale Ansatz ehrenamtlichen Engagements. Online abrufbar unter https://www.fachnetzflucht.de/wie-koennen-organisationen-dazu-beitragen-dass-ehrenamtliche-sich-langfristig-engagieren-und-nicht-demotiviert-werden-der-funktionale-ansatz-ehrenamtlichen-engagements/

[8] Chacón, F., Gutiérrez, G., Sauto, V. Vecina, M. L., & Pérez, A. (2017). Volunteer Functions Inventory: A systematic review. Psicothema, 29(3), 306-316. https://doi.org/10.7334/PSICOTHEMA2016.371

[9] Jiranek, P., Kals, E., Humm, J. S., Strubel, I. T., & Wehner, T. (2013). Volunteering as a means to an equal end? The impact of a social justice function on intention to volunteer. The Journal of Social Psychology, 153(5), 520-541. https://doi.org/10.1080/00224545.2013.768594

[10] Strubel, I. T., & Kals, E. (2018). Scope of Justice und freiwillige Engagements in der Flüchtlingshilfe. Konfliktdynamik, 7(1), 40-49. https://doi.org/10.21706/kd-7-1-40

[11] Roblain, A., Hanioti, M., Paulis, E., Van Haute, E., & Green, E. G. T. (2020). The social network of solidarity with migrants: The role of perceived injunctive norms on intergroup helping behaviors. European Journal of Social Psychology, 50(6), 1306-1317. https://doi.org/10.1002/ejsp.2700

[12] Bygballe Jensen, L. S., & Kirchner, L. M. (2020). Acts of volunteering for refugees: Local responses to global challenges. Nordic Journal of Migration Research, 10(4), 26-40. http://doi.org/10.33134/njmr.367

[13] Karakayali, S., & Kleist, O. (2016), EFA Studie 2: Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlings­arbeit (EFA) in Deutschland, Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Berlin.

[14] Kals, E., & Strubel, I. T. (2017). Volunteering to Support Refugees: A Question of One`s Scope of Justice. Refuge, 33(2), 66-77. https://doi.org/10.7202/1043064ar

[15] Weiner, B. (1995). Judgments of responsibility: A foundation for a theory of social conduct. Guilford.

[16] Niesta Kayser, D., Farwell, L., & Greitemeyer, T. (2008). A comparison of help giving to individuals versus humanitarian organizations. Journal of Applied Social Psychology, 38(12), 2990-3008. https://doi.org/10.1111/j.1559-1816.2008.00422.x

[17] Yarris, K. E. (2020). Motivations to help: local volunteer humanitarians in US refugee resettlement. Journal of Refugee Studies, 33(2), 437-459. https://doi.org/10.1093/jrs/feaa041

 

Bitte zitieren als: Strubel, Isabel T. (2022). Wie können Menschen für ein Engagement für Geflüchtete und mit Geflüchteten gewonnen werden? Online abrufbar unter https://www.fachnetzflucht.de/wie-koennen-menschen-fuer-ein-engagement-fuer-gefluechtete-und-mit-gefluechteten-gewonnen-werden/