In der Beziehung zu Migrant*innen, sehen sich Einheimische oft in der Rolle der Helfenden. Insbesondere das Ehrenamt ist durch eine überdauernde Hilfsbeziehung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen charakterisiert. Obwohl Helfen an sich positiv ist, erhalten Migrant*innen dadurch oft die Rolle der Hilfsbedürftigen und der Hilfeannehmenden. Diese Rollenverteilung in Helfende und Hilfeannehmende verstärkt die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen den Bevölkerungsgruppen. Insbesondere werden Migrant*innen dadurch mit Dankbarkeitserwartungen konfrontiert und zum Ausdruck von Dankbarkeit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft aufgefordert. Der Ausdruck von Dankbarkeit kann zwischenmenschlich positive Auswirkungen haben. Jedoch kann das Gefühl ständig in der Schuld der Mehrheitsgesellschaft zu stehen, dazu führen, dass Migrant*innen denken, sie müssten mit dem zufrieden sein, was sie bekommen und sich darum weniger gegen ihre gesellschaftliche Benachteiligung einsetzen. In diesem Artikel zeigen wir auf, wie Dankbarkeitserwartungen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migrant*innen unterschwellig zu einer Verfestigung der Machtverhältnisse zwischen den Bevölkerungsgruppen führen. Zuletzt werden Empfehlungen für Einheimische zum Umgang mit dieser Problematik gemacht.
Wenn man Hilfe erhält, dann bedankt man sich – das ist für die meisten Menschen selbstverständlich; nicht nur weil ein „Danke“ den Helfenden Wertschätzung vermittelt[1] und die Beziehung stärkt[2], sondern auch, weil „sich das so gehört“. Dass der Ausdruck von Dank auch gesellschaftlichen Erwartungen unterliegt, merkt man oft erst dann, wenn man keine Dankbarkeit fühlt und sich dennoch bedankt – und insbesondere, wenn man sich ärgert, weil das „Danke“, von einer Person, der man geholfen hat, ausbleibt.[3],[4]
Sowohl ausgedrückte Dankbarkeit, als auch ausgebliebene Dankbarkeit können Konsequenzen haben: Haupt- und Ehrenamtliche, die Neuangekommenen Unterstützung in Deutschland bieten, berichten oft von der wohltuenden und motivierenden Wirkung der Dankbarkeit der Migrant*innen[5] – ein Effekt des Dankerhalts, den die psychologische Forschung grundsätzlich dokumentiert.[1] Es gibt aber auch jene, die berichten, an vermeintlich fehlender Dankbarkeit der Migrant*innen gescheitert zu sein und aus Frust das Ehrenamt aufgegeben zu haben.[6] Hier wurde Dankbarkeit von Migrant*innen offensichtlich erwartet und diente als eine wichtige Voraussetzung für eine fortwährende Unterstützung.
Dabei haben Migrant*innen durchaus Gründe dafür, Hilfe abzulehnen oder sich nicht dankbar zu zeigen,[7] etwa, wenn die Hilfe nicht dem eigenen Bedürfnis entspricht, bevormundet oder ungefragt erfolgt (wie zum Beispiel die reglementierte Essensversorgung in Erstaufnahmeeinrichtungen)[8], oder wenn man sich nicht als hilfsbedürftig sehen möchte. Durch das Danken muss man sich eingestehen, dass man es nicht geschafft hat, seine Probleme alleine zu bewältigen und dass man von Anderen abhängig ist.[9] Dies könnte das psychologische Grundbedürfnis nach Autonomie[10] verletzen und das Vertrauen in die Wirksamkeit des eigenen Handelns einschränken.[11] Darüber hinaus kann Dank signalisieren, dass man in der Schuld der helfenden Person steht und sich revanchieren muss. Folglich sieht man die eigene Handlungsfreiheit eingeschränkt, weil man den Druck verspürt, in seinem Verhalten die Bedürfnisse der helfenden Person zu berücksichtigen.[12] So zeigt neuste Forschung, dass wenn sich Mitglieder sozial benachteiligter Gruppen für Hilfe von Mitgliedern sozial privilegierter Gruppen bedankten, sie ihre Kritik an dem diskriminierenden Verhalten dieser Personen stärker zensierten und sich weniger für eine Veränderung ihrer benachteiligten Situation einsetzten, als wenn sie sich nicht bedankten.[13] Der beschwichtigende Effekt findet sich unabhängig davon, ob man aus Dankbarkeit heraus dankt oder dankt, weil es sich so gehört.
Dankbarkeit kann also neben positiven Auswirkungen auf der zwischenmenschlichen Ebene,[14] auf einer „intergruppalen“ Ebene Abhängigkeit und Selbstzensur schaffen. Für Migrant*innen ist das besonders problematisch, weil sie im Vergleich zu Einheimischen im Durchschnitt sowieso schon geringere Chancen auf Selbstverwirklichung und geringere Handlungsfreiheit haben.[15] Zudem wird dieser ungleiche Zustand dadurch stabilisiert, dass Einheimische öfter in der Rolle der Helfenden und Migrant*innen öfter in der Rolle derer sind, von denen Dank erwartet wird. Dieses asymmetrische Verhältnis wiederrum rührt daher, dass Einheimische im Durchschnitt über mehr Ressourcen und Rechte verfügen und stärker in Entscheidungspositionen vertreten sind.[15] Ein Zustand, in dem Migrant*innen latent in der Rolle der Dankbaren sind, kann somit soziale Hierarchien reproduzieren.
Seitens der Mehrheitsgesellschaft wird Dankbarkeit manchmal genutzt, um ein bestimmtes Verhalten von Migrant*innen zu erreichen.[16] So forderte im Kontext der Migrationsbewegung um 2015 der damalige deutsche Außenminister von Migrant*innen eine „Ankommenskultur“. Er verstand darunter eine dankbarere, bescheidenere und kritiklose Haltung gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft.[17] Neuangekommene, die mit dem Taxi fuhren oder das Essen in den Gemeinschaftsunterkünften kritisieren, seien undankbar. In Österreich sprach sich währenddessen ein Landesrat für einen „Wertekanon für Zuwanderer“ aus, in dem das zehnte Gebot lautet „Du sollst Österreich gegenüber Dankbarkeit leben“.[18] Diese Beispiele verdeutlichen zum einen, dass unter Bezug auf Dankbarkeitsnormen von Migrant*innen erwartet wird, dass sie sich im Gegenzug für die Aufnahme in Deutschland demütig, kontrolliert und bescheiden zeigen.[19] Zum anderen belegen diese Beispiele, dass ihnen Widerstand und Abweichungen von dieser Rolle als Undankbarkeit ausgelegt werden können. Folgend könnten sich Migrant*innen zu Dankbarkeit verpflichtet fühlen, um dem Stigma der Undankbarkeit zu entkommen.
Dankbarkeitserwartungen scheinen im Kontext von Migration einer Einbahnstraße zu folgen. Sie verkörpern die Haltung, dass Migrant*innen der Gesellschaft unbedingt etwas zurückgeben müssen.[19] Migrant*innen in Deutschland beklagen, zunehmend auch öffentlich, dass Dankbarkeitserwartungen bestehen bleiben, wenn man sich „perfekt“ integriert hat und längst keine Hilfe mehr annimmt.[20],[21] Bei den etablierten Migrant*innen richten sich diese Erwartungen insbesondere auf Dankbarkeit für die Staatsbürgerschaft, die Rechte und Freiheiten, die mit ihr einhergehen, und die Nutzung der Bildungs- und Sozialsysteme – Privilegien, die der Mehrheitsgesellschaft auch ohne Dankbarkeitserwartungen zustehen. Seitens Migrant*innen wird zudem kritisiert, dass die einseitigen Dankbarkeitserwartungen sie erneut zu „den Anderen“ machen und ihnen somit eine Außenseiterposition in der Gesellschaft zuschreiben.[22]
Empfehlungen
Was können Einheimische auf individueller Ebene tun, um einen guten Umgang mit dieser Problematik zu finden? In erster Linie gilt es, eigene Dankbarkeitserwartungen zu hinterfragen und einen Weg zu finden, um sich von Gegenseitigkeitserwartungen gegenüber Migrant*innen freizumachen. Einigen Ehrenamtlichen ist dies auf eine nicht-zynische und befreiende Art und Weise gelungen – beispielsweise durch die Einsicht, dass Hilfsbereitschaft nicht von Gegenleistungen abhängen darf.[6] Die „Leitfragen für Einheimische“ könnten bei dieser Auseinandersetzung weiterhelfen. Wie die aufgeführten Beispiele und Forschungsergebnisse zeigen, sind Dankbarkeitserwartungen für die Autonomiebestrebungen von Migrant*innen kontraproduktiv. Entscheidend ist also auch für die Auseinandersetzung die Erkenntnis, dass es für Migrant*innen manchmal schützend sein kann, sich nicht dankbar zu zeigen.
Darüber hinaus könnte man sich verdeutlichen, dass die globale Vormachtstellung Deutschlands – und die mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Privilegien, für welche von Migrant*innen Dankbarkeit erwartet wird – zum Teil auf Kosten der Herkunftsländer der Migrant*innen hergestellt wurde und wird. Eine Auseinandersetzung mit Migrationsursachen, und somit mit der kolonialen und nationalsozialistischen Geschichte, dem Klimawandel, der Außenpolitik und den internationalen Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands kann diese Verkettungen aufzeigen.[22] Darüber hinaus ist die Möglichkeit deutsche Privilegien quasi ab der Geburt nutzen zu können für Einheimische ein reiner Zufall, für den man selber nichts geleistet hat. Durch das Erkennen solcher Zusammenhänge könnten eigene Dankbarkeitserwartungen reguliert werden.
Auf institutioneller Ebene stellt sich die Frage, wie man die Situationen reduzieren kann, durch die Dankbarkeit, welche auf sozialer Ungleichheit basiert, erst überhaupt erwartbar wird. Beispielsweise, könnte man einige ehrenamtliche Aufgaben in das Hauptamt verlagern, das ja entlohnt wird. Oder man könnte darauf verzichten, Neuangekommenen die Versorgung in Sachleistungen auszuzahlen, sondern ihnen die Geldleistung direkt zur freien Verfügung stellen. So wären Migrant*innen nicht bei jeder Leistung auf die Gunst einzelner Personen angewiesen.
Die kritische Auseinandersetzung mit Dankbarkeit in organisierter Form (z.B. in der Supervision von ehrenamtlichen Organisationen) und im gesellschaftlichen Diskurs ist notwendig, denn, wie die Berichte „alter“ Migrant*innen zeigen, kann es langfristig belastend sein in der Schuld der Mehrheitsgesellschaft zu stehen.[20],[21] Schließlich können Dankbarkeitserwartungen auch Helfende einschränken und stehen den Bevölkerungsgruppen im Wege, eine Beziehung auf Augenhöhe aufzubauen.
[1] Grant, A. M., & Gino, F. (2010). A little thanks goes a long way: Explaining why gratitude expressions motivate prosocial behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 98(6), 946-955.
[2] Algoe, S. B., Fredrickson, B. L., & Gable, S. L. (2013). The social functions of the emotion of gratitude via expression. Emotion, 13(4), 605–9.
[3] Eibach, R. P., Wilmot, M. O., & Libby, L. K. (2015). The system-justifying function of gratitude norms. Social and Personality Psychology Compass, 9(7), 348–358.
[4] Visser, M. (2009). The gift of thanks: The roots and rituals of gratitude. Houghton Mifflin Harcourt.
[5] Tenhaven, V. (2016). „Meine Erfahrungen mit Flüchtlingen im Berufsalltag als Sozialarbeiterin und Flüchtlingshelferin in einem Essener Übergangswohnheim“ / CARITAS ESSEN. www.caritas-e.de. https://www.caritas-e.de/caritas-vor-ort/aktuelles/meine-erfahrungen-mit-fluechtlingen-im-berufsalltag-als-sozialarbeiterin-und-fluechtlingshelferin-in-einem-essener-uebergangswohnheim.html
[6] Kehler, M. L. (2018, July 10). Fehlende Dankbarkeit: Flüchtlingshelfer wünschen sich mehr Anerkennung. Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://www.faz.net/aktuell/rhein- main/frankfurt/fluechtlingshelfer-in-frankfurt-hoffen-auf-mehr-anerkennung-15683147.html
[7] Fisher, J. D., Nadler, A., & Whitcher-Alagna, S. (1982). Recipient reactions to aid. Psychological Bulletin, 91(1), 27–54.
[8] Wang, K., Silverman, A., Gwinn, J. D., & Dovidio, J. F. (2015). Independent or ungrateful? Consequences of confronting patronizing help for people with disabilities. Group Processes & Intergroup Relations, 18(4) 489 –503
[9] Wakefield, J. R. H., Hopkins, N., & Greenwood, R. M. (2012). Thanks, but no thanks: Women’s avoidance of help-seeking in the context of a dependency-related stereotype. Psychology of Women Quarterly, 36(4), 423–431.
[10] Reis, H. T., Sheldon, K. M., Gable, S. L., Roscoe, J., & Ryan, R. M. (2000). Daily Well-Being : The Role of Autonomy, Competence, and Relatedness. Personality and Social Psychology Bulletin, 26(4), 419–435.
[11] Halabi, S., & Nadler, A. (2010). Receiving help: Consequences for the recipient. In S. Stürmer & M. Snyder (Eds.), The psychology of prosocial behavior: Group processes, intergroup relations, and helping (pp. 121-138). Wiley-Blackwell.
[12] Brown, P., & Levinson, S. C. (1987 [1978]). Politeness. Some Universals in Language Usage. Cambridge: Cambridge University Press.
[13] Ksenofontov, I., & Becker, J. C. (2019). The Harmful Side of Thanks: Thankful Responses to High-Power Group Help Undermine Low-Power Groups’ Protest. Personality and Social Psychology Bulletin, 46(5), 794–807.
[14] Davis, D. E., Choe, E., Meyers, J., Wade, N., Varjas, K., Gifford, A., … Worthington, E. L. (2015). Thankful for the little things: A meta-analysis of gratitude interventions. Journal of Counseling Psychology, 63(1), 20–31.
[15] Beigang, Steffen; Fetz, Karolina; Kalkum, Dorina; Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativ- und einer Betroffenenbefragung. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Baden-Baden: Nomos
[16] Yip, J. A., Lee, K. K., Chan, C., & Brooks, A. W. (2017). Thanks for nothing: Expressing gratitude invites exploitation by competitors (Harvard PON Working Paper).
[17] Asyl: De Maizière wirft Flüchtlingen Undankbarkeit vor. (2015, October 02). Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/politik/innenminister-im-heute-journal-de-maiziere-wirft-fluechtlingen-undankbarkeit-vor-1.2675489
[18] Schiltz, C. B. (2019, May 13). Wertekanon für Zuwanderer: „Du sollst Österreich gegenüber Dankbarkeit leben“. WELT. https://www.welt.de/politik/ausland/article193364681/Wertekanon-fuer-Zuwanderer-Du-sollst-Oesterreich-gegenueber-Dankbarkeit-leben.html
[19] Kluge, U., Strasser, J., Jumaa, J. A., Mehran, N., von Bach, E., & Valensise, L. (2017). ReWoven –Refugee Women and (psychosocial) volunteer engagemen. Berliner Institut für empirische Integrations-und Migrationsforschung.
[20] Gorelik, L. (2012). “Sie können aber gut Deutsch!” Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft. Pantheon.
[21] Topçu, Ö. (2018, 26. Juli). Der Superdeutsche. Die ZEIT. https://www.zeit.de/2018/31/integration-migrant-fluechtling-deutschtuerken
[22] Schwenken, H. (2018) Globale Migration zur Einführung (1. Aufl.). Junius Verlag.
Bitte zitieren als: Ksenofontov, I. & Becker, J. C. (2021). „Wenigstens ein Danke“ – Dankbarkeitserwartungen können Migrant*innen schaden. Online abrufbar unter http://www.fachnetzflucht.de/wenigstens-ein-danke-dankbarkeitserwartungen-koennen-migrantinnen-schaden