Warum ist ehrenamtliches Engagement für unbegleitete minderjährige Geflüchtete wichtig und welche Möglichkeiten gibt es?

Seit dem Jahr 2022 sind wieder vermehrt unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Dies stellt Kommunen und Jugendämter vielerorts vor große Herausforderungen bei der Unterbringung und Versorgung der Minderjährigen. Das Engagement von Ehrenamtlichen ist für unbegleitete minderjährige Geflüchtete ohnehin wichtig und in „Krisenzeiten“ umso mehr. In diesem Artikel werden beispielhaft zwei Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements vorgestellt: die Übernahme einer ehrenamtlichen Vormundschaft sowie die Übernahme einer Patenschaft („Mentoring“) für eine unbegleitete minderjährige geflüchtete Person. Diese Formen des Engagements können unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten das Ankommen in Deutschland erleichtern.

 

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Stellen Sie sich vor, Sie sind 16 Jahre alt und Sie fliehen allein, ohne Ihre Eltern, nach Deutschland. Kurz nach Ihrer Registrierung wird sich das örtliche Jugendamt um Ihre Unterbringung und Versorgung kümmern.[1] Sie werden in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam mit anderen geflüchteten Jugendlichen untergebracht. Dort haben Sie einen Betreuer, der Sie in Ihrem Alltag unterstützt. Da Sie noch minderjährig sind, haben Sie zudem eine Amtsvormundin, die Sie in Ihren rechtlichen Belangen vertreten soll, zum Beispiel bei der Stellung eines Asylantrags. Sowohl der Betreuer als auch die Amtsvormundin haben eine hohe Arbeitsbelastung und finden nicht immer die Zeit, sich eingehend um Ihre Belange zu kümmern. Sie werden zunächst in einer Willkommensklasse beschult mit Klassenkamerad*innen, die ebenfalls aus anderen Ländern nach Deutschland migriert sind.

Wie kommen Sie nun in Kontakt mit Menschen, die der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“ angehören? Bei denen Sie Ihre Deutschkenntnisse ausprobieren und auch mal etwas über die Gepflogenheiten in Deutschland nachfragen können? Wer nimmt sich auch mal etwas mehr Zeit für Sie, um Ihre persönlichen Interessen und Sorgen in Erfahrung zu bringen? Wer ist noch für Sie da, wenn Sie mit Ihrem 18. Geburtstag automatisch keine Vormundin mehr haben und Sie in rechtlichen Fragen auf sich gestellt sind und die Versorgung in der Kinder- und Jugendhilfe eventuell nicht mehr weiterbewilligt wird?

Stellen Sie sich außerdem vor, Ihre Einreise findet jetzt, im Jahr 2023, statt. Seit vergangenem Jahr sind vielerorts in Deutschland so viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete angekommen wie seit der sogenannten EU-Flüchtlingskrise 2015/16 nicht mehr.[2] Hierbei handelt es sich vor allem um Jugendliche im Alter von 16-17 Jahren aus Afghanistan, Syrien, der Türkei und der Ukraine.[3][4] Da die Aufnahmekapazitäten in einigen Kommunen bereits an ihre Belastungsgrenzen gekommen sind, haben einige Bundesländer die Mindeststandards in der Versorgung und Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten vorläufig herabgesenkt.[5] Deswegen werden Sie zunächst provisorisch untergebracht (z. B. in einem Hostel oder einer Turnhalle) und der Übergang in eine langfristige Unterbringung in einer angemesseneren Wohnform mit altersgerechter Betreuung sowie Besuch einer Willkommensklasse kann sich um Monate verzögern. Auch die Beantragung von Asyl kann sich verzögern, wenn Ihnen noch kein Vormund zugeordnet wurde. Sie stecken also über einen längeren Zeitraum in einem Wartezustand und wissen nicht, wie es weitergehen wird. Solche Wartezustände werden bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten auch als Phase einer chronifizierten Vorläufigkeit bezeichnet.[6] Diese ist durch Unklarheiten über die Bleibeperspektive gekennzeichnet und erschwert das Ankommen, Kennenlernen der neuen Kultur und Erfüllen von Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (z. B. Identitätsentwicklung, Autonomie).[ebd.] Wie viele andere Jugendliche auch wünschen Sie sich Unterstützung aus Ihrem Umfeld – eine Ressource, an der es häufig mangelt und deren Abwesenheit nachweislich mit einer schlechteren mentalen Gesundheit von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten zusammenhängt.[7]

Unterstützungsmöglichkeiten für unbegleitete minderjährige Geflüchtete

Ehrenamtliches Engagement für unbegleitete minderjährige kann eine wichtige soziale Unterstützung darstellen. Aufgrund der aktuellen Überlastungssituation ist der Bedarf hieran umso größer. Im Folgenden werden zwei ehrenamtliche Engagementformen vorgestellt.

Ehrenamtliche Vormundschaften

Unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten muss aufgrund ihrer Minderjährigkeit und der Abwesenheit ihrer Sorgeberechtigten ein*e Vormund*in an die Seite gestellt werden. Die Vormundschaft wird in der Regel im Rahmen einer Amtsvormundschaft einer Person vom Jugendamt erteilt. Amtsvormund*innen sind jedoch häufig für eine Vielzahl an Jugendlichen zuständig.[8] Bei einer ehrenamtlichen Vormundschaft übernimmt hingegen eine Privatperson die Vormundschaft und wird dazu vom Gericht offiziell „bestellt“. Die ehrenamtliche Vormundschaft ist sogar per Gesetz gegenüber anderen Vormundschaftsformen zu bevorzugen (§ 1779 BGB Abs. 2).

Zu den Aufgaben der Vormund*innen gehört es, die rechtliche Vertretung für die minderjährige Person zu übernehmen und wichtige Entscheidungen gemeinsam mit Mündeln zu treffen oder Anträge zu stellen, zum Beispiel im Rahmen des Asylantragverfahrens oder für die Unterbringung. Dazu gehört auch, anhand von mindestens einmal im Monat stattfindenden Treffen die Interessen, Wünsche und Belange der Minderjährigen kennenzulernen. Eine Vormundschaft bedeutet nicht, dass man die minderjährige Person bei sich zuhause aufnimmt oder sie finanziell unterstützt. Vormund*innen sind in sehr relevante Lebensbereiche der Jugendlichen involviert – mit weitreichenden Konsequenzen etwa für die Bleibeperspektive oder den schulischen und beruflichen Werdegang. Daher ist es wünschenswert, dass eine Person diese Aufgabe übernimmt, die sich über das vorgegebene Mindestmaß hinaus Zeit nehmen kann, um eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, die persönlichen Interessen und Belange der Jugendlichen kennenzulernen und entsprechend zu vertreten und auch über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus Ansprechpartner*in bleibt. Die Übernahme einer ehrenamtlichen Vormundschaft kann über Vormundschaftsvereine vermittelt werden, die die Vormund*innen für die Aufgabe schulen, Vormund*innen und Mündel zusammenbringen und während der Zeit der Vormundschaft diese begleiten, etwa mit sozialpädagogischen und juristischen Hilfsangeboten und Weiterbildungen. Die Vormundschaft wird formal von einem Gericht an die Vormund*innen übertragen, das auch deren Eignung vorab überprüft bzw. vom Jugendamt überprüfen lässt.

Die Anfangszeit in Deutschland und „chronifizierte Vorläufigkeit“ ist unter anderem dadurch geprägt, dass viele zentrale Entscheidungen langwierigen Warteprozessen unterliegen, wie etwa hinsichtlich des Asylantrags. Vormund*innen, die sich in besonderem Maß für die Mündel einsetzen, vertreten deren individuelle Interessen und können unter Umständen Prozesse beschleunigen, für Klärung sorgen, und nebenbei auch das Gefühl vermitteln, dass es vorangeht und sich jemand darum kümmert.

Patenschaften/Mentoring

Eine Patenschaft (häufig auch „Mentoring“) für eine geflüchtete Person ist darauf ausgerichtet, dass die Pat*innen den Mentees das Leben in Deutschland näherbringen, ihr Deutschlernen fördern und sie auch praktisch oder emotional als Vertrauensperson unterstützen. Solche Patenschaftsprogramme gibt es sowohl spezifisch für unbegleitete minderjährige Geflüchtete als auch für volljährige Geflüchtete oder geflüchtete Familien. Einige Vormundschaftsvereine streben an, nach Eintreten der Volljährigkeit der Mündel den Kontakt zwischen Vormund*innen und Mündel im Rahmen eines Mentorings weiterzuführen.

Bei Patenschaften werden regelmäßige (z. B. wöchentliche) Treffen für gemeinsame Aktivitäten über einen bestimmten Zeitraum (z. B. für zunächst ein Jahr) angesetzt. Patenschaften werden über Vereine oder Projekte organisiert, die Bereitwillige anhand von Schulungen gezielt vorbereiten, die Patenschaft vermitteln und begleiten und auch Weiterbildungsangebote für die Pat*innen anbieten. Eine Patenschaft eröffnet unter anderem Möglichkeiten, sich in der neuen Kultur zu orientieren. Somit stellt dies für unbegleitete minderjährige Geflüchtete ein Angebot für die (bi-)kulturelle Identitätsentwicklung dar, die in der Anfangszeit in Deutschland und der Phase der „chronifizierten Vorläufigkeit“ sonst häufig gar nicht möglich ist. Auch entstehen hier soziale Kontakte, die langfristig bestehen bleiben können und den Zuständigkeitswechseln in der Kinder- und Jugendhilfe gegenüberstehen.

Wirksamkeit von Vormundschaften und Patenschaften

Im deutschsprachigen Raum gibt es einige Studien, die die positiven Aspekte von Patenschaften und ehrenamtlichen Vormundschaften aus der Sicht von Vormund*innen, Mentor*innen, Mündeln und Mentees sowie Fachkräften hervorheben.[9] Der Evaluationsbericht eines Vormundschafts- und Mentoringprojekts aus Berlin legt nahe, dass ehrenamtliche Vormundschaften und Patenschaften/Mentoring aufgrund einer intensiven Einzelförderung mit verbesserten Zugängen in unterschiedlichen Lebensbereichen einhergehen, wie etwa Bildung und Arbeitsmarkt, einer Entlastung im Asylverfahren und einer verbesserten Bleibeperspektive, einem erleichterten Übergang in die Selbständigkeit, verbesserter emotionaler Stabilität und kultureller Teilhabe.[10] So werden im Evaluationsbericht Situationen aus Sicht der Befragten wiedergegeben, in denen Pat*innen bei bürokratischen Anliegen im Kontakt mit Behörden hilfreich waren, etwa indem sie Termine begleiteten oder beim Ausfüllen von Anträgen unterstützt haben. Auch werden Mentor*innen und Vormund*innen als Vertrauenspersonen bei psychischen Belastungen genannt und sind Ansprechpartner*innen für Fragen rund um die Kultur und Gesellschaft in Deutschland. Somit stellen die Vormundschaften und Patenschaften eine wichtige Ressource für die persönliche Entwicklung und die mentale Gesundheit dar, die sich den ungünstigen Effekten der „chronifizierten Vorläufigkeit“ entgegensetzen kann.

 

Möglichkeiten des Engagements für unbegleitete minderjährige Geflüchtete gibt es mittlerweile in einer Vielzahl von Städten. Personen, die sich für die Übernahme einer ehrenamtlichen Vormundschaft interessieren, können sich zum Beispiel an das Netzwerk Vormundschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Berlin, den Kinderschutzbund Hamburg, sowie Kinderschutz  München wenden. Nähere Informationen zur Vormundschaft und rechtliche Hintergründe sind auf der Webseite des BumF e.V. zu finden. Patenschafts- bzw. Mentoringprogramme werden zum Beispiel von XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e.V.  in Berlin, Kinderschutzbund Hamburg und Fluchtraum Bremen e.V. organisiert. Sollten Sie sich engagieren wollen und in Ihrem Wohnort keine entsprechenden Organisationen finden, können Sie sich auf den Webseiten der örtlichen Jugendämter, der Flüchtlingsräte oder der Sozialministerien Ihres Bundeslandes informieren.

 

Auf einen Blick
• Seit dem vergangenen Jahr sind viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach Deutschland gekommen.
• Aufgrund der Überlastung der Aufnahmeeinrichtungen sind die Standards in der Versorgung und Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten teils herabgesenkt worden.
• Ehrenamtliches Engagement in Form von einer Patenschaft („Mentoring“) oder Vormundschaft kann für die Jugendlichen eine bedeutsame Unterstützung darstellen.

 

Literatur

[1] Scholaske, L. and Kronenbitter, L. (2021). Subjektive Perspektiven und Lebenslagen von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten und jungen Volljährigen in Deutschland. DeZIM-Institut: Berlin. Online abgerufen am 27.02.2023 unter https://www.dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/Demo_FIS/publikation_pdf/FA-5012.pdf

[2] Mediendienst Integration (2023). Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Online abgerufen am 06.03.2023 unter https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/minderjaehrige.html#c2158

[3] Bundesamt für Migration und Flucht (2022). Statistische Daten zu unbegl. minderj. Kindern (< 18 Jahre), hier: Anträge und Entscheidungen. Online abgerufen am 06.03.2023 unter https://static1.squarespace.com/static/62f91963ad4d953820a82029/t/63ee4fa35375195588977eb4/1676562339505/TT_2022_unbegl-Minderj%C3%A4hrige.pdf

[4] Kögel, A. Allein in großer Not: Viele jugendliche Ukrainer, Kurden und Russen fliehen ohne Eltern nach Berlin. Tagesspiegel, 08.10.2022. Online abgerufen am 27.02.2023 unter https://www.tagesspiegel.de/berlin/allein-in-grosser-not-viele-jugendliche-ukrainer-kurden-und-russen-fliehen-ohne-eltern-nach-berlin-8725252.html

[5] Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, & terre des hommes (2023). Kindeswohl für alle Kinder und Jugendlichen sichern! Unterbringungssituation von UMF wird immer prekärer: Fachkräfte und UMF dürfen nicht alleine gelassen werden! Online abgerufen am 06.03.2023 unter https://b-umf.de/src/wp-content/uploads/2023/02/kindeswohl-fur-alle-kinder-und-jugendlichen-sichern-final.pdf.

[6] Sierau, S., Nesterko, Y. and Glaesmer, H. (2019). Herausforderungen im Fluchtprozess unbegleiteter Jugendlicher. Kindheit und Entwicklung, 28(3), 139–146. doi: 10.1026/0942-5403/a000284.

[7] Daniel-Calveras, A., Baldaquí, N. and Baeza, I. (2022) ‘Mental health of unaccompanied refugee minors in Europe: A systematic review’, Child Abuse & Neglect. 133, 105865. doi: 10.1016/j.chiabu.2022.105865.

[8] Bundestagsdrucksache 19/31838 (2021). Bericht der Bundesregierung über die Evaluation des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher und über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland. Hg. v. Deutscher Bundestag. Berlin.

[9] Maas, M. (Hrsg.) (2023). Ehrenamtliche Vormundschaften. Potenziale, Grenzen, Gestaltungsmöglichkeiten. Beltz Juventa.

[10] Ceresna-Chaturvedi, L., Karliczek, K.-M., Prillwitz, M., Grau, J. M., & Imhof, W. (2021). Evaluation des Netzwerks Vormundschaft. Camino Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich GGMBH Online abgerufen am 06.03.2023 unter https://camino-werkstatt.de/downloads/Camino-Abschlussbericht_Eval_NWV.pdf

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Bitte zitieren als: Scholaske, Laura. (2023). Warum ist ehrenamtliches Engagement für unbegleitete minderjährige Geflüchtete wichtig und welche Möglichkeiten gibt es? Magazin des Fachnetzwerks Sozialpsychologie zu Flucht und Integration. Online abrufbar unter https://www.fachnetzflucht.de/wp-content/uploads/2023/08/Scholaske_UMF.pdf