Wie können wir Menschen ohne Migrationshintergrund, die sich abgehängt fühlen, integrieren?

In Integrationsdebatten werden häufig Gefühle von Entbehrung oder Benachteiligung (Deprivation) der Menschen mit Migrationserfahrungen thematisiert. In einer polarisierten, krisengebeutelten Gesellschaft breiten sich Deprivationsgefühle jedoch in vielen gesellschaftlichen Milieus ganz unabhängig von der Herkunft aus. Rechtsextreme politische Akteure schüren Unzufriedenheit und machen Minderheiten für Missstände verantwortlich. Deshalb ist es entscheidend für eine stabile Demokratie, die Bedürfnisse aller sich depriviert fühlender Menschen wahrzunehmen und aufzugreifen. Strategische Maßnahmen gegen wahrgenommene Deprivationserfahrungen erfordern einen Paradigmenwechsel in der Demokratievermittlung: Ein Ansatz hierfür bieten radikale, institutionalisierte Foren der Bürger*innenbeteiligung.

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Die Situation: Der Mensch im Krisenmodus

„Krisenmodus“ wurde 2023 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt. Ihre Geschäftsführerin kommentierte die Auswahl wie folgt: „Die Liste spiegelt die Realität wider, und die Realität ist derzeit ziemlich düster“. Sie betonte, dass die Gesellschaft seit 2020 in einem fortwährenden Krisenzustand verharrt, der durch Ereignisse wie die COVID-19-Pandemie, den russischen Angriff auf die Ukraine, die Energiekrise, Bildungsprobleme und den Konflikt zwischen Israel und der Hamas geprägt sei. Diese anhaltende Ausnahmesituation erzeuge bei den Menschen Ängste, Unsicherheit und das Gefühl der Ohnmacht, da niemand genau weiß, was als nächstes passieren wird.[1] Als Folge davon bemühen sich Menschen darum, Wege zu finden, um diesen unangenehmen Zustand und die negativen Emotionen zu überwinden. Dabei kann es vorkommen, dass diese Gefühle Angst auslösen, jetzt oder in Zukunft ungerecht behandelt zu werden, was zur Suche nach „Schuldigen“ führen kann.

Die psychologische Ebene: Wie kommt es zum Gefühl der Deprivation?

Es ist bemerkenswert, dass sich auch Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland abgehängt fühlen können, obwohl sie oft vergleichsweise privilegiert sind. Dies kann daran liegen, dass grundlegende Bedürfnisse wie ökonomische Sicherheit, soziale Anerkennung sowie Kontrolle über das eigene Leben und Vertrauen in Medien, Staat und Politik subjektiv nicht oder nicht mehr erfüllt werden.[2] Um ihre (Un-)Zufriedenheit festzustellen, vergleichen sich Menschen mit anderen. Damit ist das subjektive Gefühl von Zufriedenheit durch politische Akteure beeinflussbar, die den Menschen einreden, es ginge ihnen schlechter als anderen. Das resultierende Gefühl wird in der Psychologie als Relative Deprivation bezeichnet.[3] In unserer sich schnell verändernden Gesellschaft können sich manche Menschen zurückgelassen fühlen, weil sie den Eindruck haben, es ginge ihnen a) schlechter als früher, b) schlechter als anderen oder c) möglicherweise in der Zukunft schlechter.[4] Die steigende Inflation, die Auswirkungen der vergangenen Coronapandemie und die zunehmende Angst vor internationalen Konflikten können dabei zu ökonomischer Unsicherheit führen.

Was das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung betrifft, könnten besonders Männer das Gefühl haben, dass sie in der Gesellschaft im Zuge der Gleichstellung an sozialer Bedeutung verlieren. Dadurch könnten sie sich in ihrer männlichen Identität bedroht fühlen.[5] Als Konsequenz und auch als Folge der zunehmend komplexer werdenden Welt, beispielsweise durch die Globalisierung, kann zudem ein Gefühl von Kontrollverlust entstehen, welches letztendlich zu einem geringeren Vertrauen in den Staat führen kann.[6] Der Grad der Neigung einer Person zu relativer Deprivation kann wiederum von verschiedenen Faktoren abhängen, beispielsweise von ihrem Maß an Autoritarismus (politische Einstellungen, die die Einführung autoritärer politischer Strukturen befürworten). Denn dieses Persönlichkeitsmerkmal erhöht die Bereitschaft sich depriviert zu fühlen.[7]

Rechte Parteien nutzen geschickt diese Gefühle, greifen sie auf und verstärken sie, indem vermeintliche oder reale Probleme skandalisiert werden. Für komplexe Themen wie Migration bieten sie vermeintlich einfache Lösungen, wie Ausgrenzen, Abschotten, Abschieben an.[2]

Ein Paradigmenwechsel in der Demokratievermittlung schafft Identität und Selbstwirksamkeit

Um diese Menschen anzusprechen, müssten verschiedene Maßnahmen ergriffen werden, die die Bedürfnisse nach ökonomischer Sicherheit, sozialer Anerkennung sowie Kontrolle über das eigene Leben und Vertrauen in Medien, Staat und Politik aufgreifen. Eine mögliche Antwort auf wahrgenommene ökonomische Deprivation könnte darin bestehen, den Sozialstaat weiter auszubauen, anstatt ihn abzubauen. Dies beinhaltet gute Löhne, sichere Arbeitsplätze und soziale Absicherung im Notfall. [8] Darüber hinaus beinhaltet das die klare Kommunikation über die Sicherheiten, die der Sozialstaat bietet, sowie die Aufklärung über die vergleichsweise komfortable wirtschaftliche Situation im globalen Kontext. Eine zentrale Maßnahme wäre, dass Bürger*innen die Ordnung und Organisation der Gesellschaft als ihr eigenes Projekt verstehen. Der weiteren Sensibilisierung der Gesellschaft für demokratische Beteiligungsprozesse kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, denn im Kontext von Beteiligungsprozessen, beispielsweise bei der Errichtung von Windrädern, werden Gefühle von Identität und Selbstwirksamkeit vermittelt.[9] Diese stellen wirksame Mittel gegen die oben beschriebenen Deprivationsempfindungen dar.

In Bezug auf die Identitätskonfliktlinie könnte es entscheidend sein, Erfahrungen von Wertschätzung, und Anerkennung durch Beteiligung zu fördern, ohne dabei auf kollektiven Narzissmus (die Idee, dass die eigene Nation die Beste ist) oder nationalistische Stereotype zurückzugreifen.[10],[11] Dies kann in allen Institutionen, Betrieben und Bildungseinrichtungen aktiv realisiert werden. Auch Räume zur Vermittlung der Demokratie wie Bürger*innenräte können fest institutionalisiert werden, in denen sich Menschen jenseits von Herkunft und anderen Gruppenmerkmalen auf menschlicher Ebene begegnen und ihre Arbeits- und Gesellschaftskontexte kollektiv selbst gestalten. Bürgerräte bestehen aus ausgewählten Personen, die sich über mehrere Sitzungen hinweg treffen, um in kleinen Gruppen ein bestimmtes Thema zu besprechen. Am Ende ihrer Beratungen erstellen sie Empfehlungen, die sie der Politik in Form eines Gutachtens vorlegen. Während des Prozesses erhalten die Teilnehmenden umfassende Informationen von Expert*innen der Wissenschaft und Politik. Das Ganze wird von einem neutralen Moderationsteam begleitet. Um die Selbstwirksamkeit der Bürger*innen tatsächlich zu stärken, müssten die Empfehlungen der Räte jedoch mehr politische Bedeutung erlangen. Denn dies fördert wiederum Wahrnehmungen von Kontrolle und Vertrauen in die Gesellschaft und stärkt die demokratische Resilienz.[12],[13] Gerade auf kommunaler Ebene könnte in Gesprächen mit Stadt und Landkreis dafür geworben werden, solche Räte zu schaffen oder auszubauen.

Ein weiteres institutionalisiertes Mittel, um Bürgerbeteiligung zu fördern, könnte der Bildungsurlaub sein. Bildungsurlaub ermöglicht es Arbeitnehmer*innen, sich für eine bestimmte Anzahl von Tagen im Jahr von der Arbeit freistellen zu lassen, um an Weiterbildungsseminaren teilzunehmen. Viele Bildungshäuser bieten mehrtägige Seminare an, die sich auf Themen wie Demokratie, gesellschaftliche Teilhabe und politische Bildung konzentrieren. Diese Seminare sind alltags- und lebensweltnah gestaltet und schaffen Diskursräume, in denen politische Meinungen und Demokratieverständnisse ausgetauscht werden können. Solche Angebote könnten das gegenseitige Verstehen, Gehörtwerden und Toleranz fördern und sie zeigen den Teilnehmenden konkrete Partizipationsmöglichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft auf. Eine großflächigere Verbreitung des Bildungsurlaubs könnte auch weniger politisch Interessierte anziehen, die durch die Freistellung von der Arbeit neue Erfahrungen machen können und gleichzeitig bezahlt werden.

Ein gutes Beispiel für nicht-staatliche Initiativen ist der parteiunabhängige Verein Aktion Zivilcourage e.V. in Pirna. Der Verein bietet gesellschaftliche und politische Bildungsarbeit für alle Altersgruppen an und unterstützt staatliche sowie nicht-staatliche Organisationen. Die Aktion Zivilcourage e.V. setzt sich sachsenweit ein, insbesondere für Menschen im ländlichen Raum. Ihre Projekte reichen von Kitas, Horten und Grundschulen über Jugendliche bis hin zu Erwachsenen und fördern den grenzübergreifenden Austausch. Zu ihren Angeboten gehören die Begleitung pädagogischer Fachkräfte, Workshops, Jugendclubs, Bürgerdialoge, Bildungsfahrten und das Projekt „Die gläserne Stadt“, dass das Vertrauen in das demokratische Zusammenleben stärkt. Wenn solche Projekte und Vereine vermehrt etabliert werden, stärkt dies demokratische Prozesse und Engagement. Damit dies klappen kann, müsste die Finanzierung dieser Projekte finanziell abgesichert und gleichzeitig die Wirksamkeit der Maßnahmen evaluiert werden.

Es ist von entscheidender Bedeutung für eine stabile Demokratie, politisches Engagement und Zivilcourage zu fördern und bereits in Bildungseinrichtungen und Betrieben zu verankern. Nur wenn alle gesellschaftlichen Akteure sich an der Weiterentwicklung und radikalen Umsetzung demokratischer Prinzipien beteiligen, gibt es langfristig eine Perspektive die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen.

 

Auf einen Blick
• Wenn grundlegende Bedürfnisse nach ökonomischer Sicherheit, sozialer Anerkennung sowie Kontrolle über das eigene Leben und Vertrauen in Medien, Staat und Politik subjektiv nicht erfüllt sind, können sich auch Menschen ohne Migrationshintergrund abgehängt fühlen.
• Um diese Menschen anzusprechen, müssten Maßnahmen ergriffen werden, die diese Bedürfnisse aufgreifen.
• Multiple Formen der Bürger*innenbeteiligung könnten die Mitbestimmung diverser Gruppen organisieren und Deprivationsempfindungen entgegenwirken.
• Beispiele hierfür sind Bürger*innenräte, Bildungsurlaube und nicht-staatliche Initiativen wie die Projekte des parteiunabhängigen Vereins Aktion Zivilcourage e.V. in Pirna.

 

Literatur

[1] Süddeutsche Zeitung (2023, December 8). ‘Krisenmodus’ ist Wort des Jahres—“Antisemitismus“ auf Platz zwei. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/panorama/woerte-des-jahres-krisenmodus-antisemitismus-1.6316300

[2] Walther, E., & Isemann, S. D. (2019). Einleitung: Psychologische Erklärungen für den Erfolg der AfD. Die AfD–psychologisch betrachtet, 1-25. Springer.

[3] Smith, H. J., Pettigrew, T. F., Pippin, G. M., & Bialosiewicz, S. (2012). Relative deprivation: A theoretical and meta-analytic review. Personality and Social Psychology Review, 16(3), 203-232.

[4] Mols, F., & Jetten, J. (2016). Explaining the appeal of populist right‐wing parties in times of economic prosperity. Political Psychology, 37(2), 275-292.

[5] DiMuccio, S. H., & Knowles, E. D. (2021). Precarious manhood predicts support for aggressive policies and politicians. Personality and Social Psychology Bulletin, 47(7), 1169-1187.

[6] Hornsey, M. J., Bierwiaczonek, K., Sassenberg, K., & Douglas, K. M. (2023). Individual, intergroup and nation-level influences on belief in conspiracy theories. Nature Reviews Psychology, 2, 85-97.

[7] Yoxon, B., Van Hauwaert, S. M., & Kiess, J. (2019). Picking on immigrants: a cross-national analysis of individual-level relative deprivation and authoritarianism as predictors of anti-foreign prejudice. Acta Politica, 54, 479-520.

[8] Swank, D., & Betz, H. G. (2003). Globalization, the welfare state and right-wing populism in Western Europe. Socio-Economic Review, 1(2), 215-245.

[9] Finkel, S. E. (1987). The effects of participation on political efficacy and political support: Evidence from a West German panel. The Journal of Politics, 49(2), 441-464.

[10] Golec de Zavala, A., Dyduch‐Hazar, K., & Lantos, D. (2019). Collective narcissism: Political consequences of investing self‐worth in the ingroup’s image. Political Psychology, 40, 37-74.

[11] Golec de Zavala, A. (2019). Collective narcissism and in-group satisfaction are associated with different emotional profiles and psychological wellbeing. Frontiers in Psychology, 10, 203.

[12] Christensen, H. S. (2018). Knowing and distrusting: how political trust and knowledge shape direct-democratic participation. European Societies, 20(4), 572-594.

[13] Vecchione, M., & Caprara, G. V. (2009). Personality determinants of political participation: The contribution of traits and self-efficacy beliefs. Personality and Individual Differences, 46(4), 487-492.

 

Bitte zitieren als: Abad Borger, Katharina & Walther, Eva. (2024). Wie können wir Menschen ohne Migrationshintergrund, die sich abgehängt fühlen, integrieren? Magazin des Fachnetzwerks Sozialpsychologie zu Flucht und Integration. Online abrufbar unter http://www.fachnetzflucht.de/wie-koennen-wir-menschen-ohne-migrationshintergrund-die-sich-abgehaengt-fuehlen-integrieren