Wie entsteht islamistische Radikalisierung – und wie kann sie verhindert werden?

Ende 2019 wurden am Oberlandesgericht Hamburg zwei Iraker wegen der Vorbereitung eines Terroranschlags in Deutschland zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Die beiden Cousins waren als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Sie hatten sich in Deutschland radikalisiert und letztlich entschlossen, einen Anschlag durchzuführen, bei dem möglichst viele „Ungläubige“ sterben sollten[1]. In einem Fall wie diesem stellt sich die Frage, ob und vor allem wie Radikalisierung verhindert werden kann. In diesem Beitrag sollen mögliche Antworten auf diese Frage gefunden werden.

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Um die Frage zu beantworten, wie Radikalisierung verhindert werden kann, braucht es zunächst ein Verständnis darüber, wie Radikalisierung überhaupt entsteht. Radikalisierung ist in der Regel ein gradueller Prozess, in dem ein Individuum oder eine Gruppe zunehmend ein extremistisches Glaubenssystem übernimmt und der Gewalt zur Durchsetzung politischer oder gesellschaftlicher Ziele zunehmend gutheißen lässt[2]. Solche Ziele können den Schutz der Vormachtstellung der „weißen Rasse“ umfassen (wie bei den sog. White Supremacists) oder auch die strikte Auslegung des eigenen Glaubens (wie im sog. IS). Radikalisierung verläuft nicht notwendigerweise linear. Außerdem kann Radikalisierung bis zu einem terroristischen Akt reichen, sie muss es aber nicht.

Wie radikalisieren sich Menschen?

Theorien und Modell darüber, wie sich Menschen radikalisieren, existieren mannigfaltig. An dieser Stelle sollen die Ergebnisse einer neueren Studie[3] herausgegriffen werden, um den – speziell islamistischen – Radikalisierungsprozess zu beleuchten. In dieser Studie wurden Informationen über insgesamt 142 Radikalisierte codiert. Das waren einerseits Personen, die aufgrund einer anfänglichen islamistischen Radikalisierung unter polizeilicher Betreuung standen. Sie hatten sich in den 2010er Jahren radikalisiert und waren somit eine jüngere Generation Radikalisierter. Andererseits handelte es sich um Personen, über die aufgrund einer islamistischen Tat (z.B. einem Anschlag oder einer Ausreise) in der Presse berichtet worden war. Sie hatten sich zu einem früheren Zeitpunkt radikalisiert und waren somit eine etwas ältere Generation Radikalisierter. Die Variablen, anhand derer die Informationen über diese Personen codiert wurden, waren eine große Bandbreite an soziodemographischen, biographischen und psychologischen Faktoren, die der aktuellen Forschungslandschaft entnommen waren.

In der Studie zeigte sich, dass manche Menschen für den Prozess der Radikalisierung empfänglicher zu sein scheinen als andere. So wurden vermehrt Männer in ihren frühen 20er Jahren vom Islamismus angezogen (im Schnitt waren diese 21 bzw. 22 Jahre alt). Auch Migration schien für die islamistische Radikalisierung eine gewisse Rolle zu spielen. Geflüchtete waren dabei jedoch nicht unbedingt die primäre Risikogruppe: Die Daten zeigten, dass zwar ein gewisser Anteil von Radikalisierten Geflüchtete waren – das waren 10.5% bei der etwas älteren Generation von Radikalisierten und 19.6% bei der jüngeren Generation. Häufiger wurden jedoch Menschen mit einem Migrationshintergrund der „zweiten Generation“, also die Kinder von Migrant*innen, von islamistischen Ideen angesprochen. Dies ist konkordant mit früheren Forschungsarbeiten, die zeigen, dass ein solcher Migrationshintergrund Menschen für radikale Ideen öffnen kann: Denn er kann ein Gefühl der Entwurzelung schaffen, nämlich dann, wenn sich Menschen weder in der konservativen Kultur ihrer Eltern noch in ihrer jetzigen Gesellschaft aufgehoben fühlen[4]. Für radikale Ideen empfänglich machen  können aber auch bestimmte biographische Faktoren. In der Studie zeigten sich kritische Lebensereignisse, wie der Tod einer geliebten Person, als solche Faktoren. Dieses Muster war insbesondere bei der etwas älteren Generation Radikalisierter auffällig und stimmte mit anderen Forschungsergebnissen überein. Zum Beispiel hatten in einer Studie mit amerikanischen Terroristen 90% vor ihrer Radikalisierung ein kritisches Lebensereignis erfahren[5]. In der jüngeren Generation Radikalisierter scheint ein anderer biographischer Faktor eine gewichtige Rolle zu spielen: soziale Ausgrenzung. In der Studie hatte kein Einziger der islamistisch Radikalisierten nur ein geringeres Ausmaß an sozialer Exklusion erlebt; die Stichprobe teilte sich stattdessen in Personen, die entweder immer mal wieder ausgegrenzt wurden oder eine permanente Ausgrenzung erlebt hatten. Dass soziale Exklusion die Macht hat, Menschen für ein radikales Mindset zu öffnen, zeigte sich auch in experimentellen Studien innerhalb anderer Phänomenbereiche wie dem Tierschutzterrorismus[6].

Gemäß der Studie3 existieren zwar diese individuellen Vulnerabilitäten für Radikalisierung; Radikalisierung wird jedoch primär durch bestimmte Prozessvariablen vorangetrieben. Auf individueller Ebene sind das vor allem Bedürfnisse nach Signifikanz und Selbstwert sowie Kontrolle. Das Streben nach persönlicher Signifikanz, also der Wunsch, eine Rolle zu spielen oder jemand zu sein, ist fundamental. Wenn jedoch Terrorismus als geeignetes Mittel auserkoren wird, um dieses Streben zu befriedigen, kann es einer der wichtigsten Antriebe für Radikalisierung sein[7]. Gefühle von Unsicherheit über die Welt und das eigene Verhalten sind ebenfalls Triebfedern der Radikalisierung. Solche Gefühle sind generell aversiv und Menschen streben danach, Kontrolle wiederzuerlangen. Durch identitätsdefinierende Glaubenssysteme und eine klare Führung, wie sie in radikalen Strukturen vorzufinden sind, gelingt dies jedoch besonders gut[8].

In den meisten Radikalisierungsverläufen spielt zudem die Mitgliedschaft zu einer radikalen Gruppierung eine gewichtige Rolle, wie die Studie[9] weiter aufzeigte. Dabei sei angemerkt, dass es zwar immer wieder Berichte von Einzeltäter*innen gibt. Diese verfügen aber in aller Regel ebenfalls über radikale soziale Bezugssysteme, wie z.B. virtuelle Gesinnungsgemeinschaften[9]. Letztlich werden über 95% der terroristischen Attentate in Gruppen geplant und ausgeführt[10]. Psychologisch erscheint diese hohe Zahl erklärbar: Im Rahmen einer starken Gruppenidentifikation wird Radikalisierung typischerweise durch verschiedenste Gruppenprozesse immer weiter vorangetrieben[11]. Diese reichen, wie in der Studie[3] deutlich wurde, von Konformität über eine subjektiv empfundene Gruppenbedrohung bis hin zu Gruppenpolarisierung, also der Extremisierung von Meinungen in einer Gruppe.

In letzter Konsequenz können sog. katalysierende Prozesse wie Desensibilisierung und Dehumanisierung radikales Gedankengut beschleunigen[3]. Die Gewöhnung an Gewalt und der Eindruck, dass die (vermeintlichen) Gegner*innen eigentlich gar keine Menschen sind und somit keine menschliche Behandlung verdienen, können letzte Hemmungen, gewalttätige Handlungen zu begehen, reduzieren[12].

Wie kann Radikalisierung nun verhindert werden?

Obwohl sich die speziellen Profile und Lebenswege Radikalisierter letztlich unterscheiden und es daher schwierig ist, ein Phänomen wie Radikalisierung vorherzusehen, lassen sich doch gewisse problematische Konstellationen herauskristallisieren, die Anhaltspunkte dafür liefern, wie Radikalisierung womöglich verhindert werden kann.

Zum einen erscheint es sinnvoll, unter Menschen, die potenziell für radikales Gedankengut empfänglich sein könnten (z.B. junge entwurzelte Männern mit kritischen Lebensereignissen oder Ausgrenzungserfahrungen), Bedürfnisse nach Kontrolle und Signifikanz zu bedienen, um Radikalisierung vorzubeugen. Das könnte durch ein haltgebendes Unterstützungssystem, aber auch durch berufliche Förderungen geschehen. Solcherlei Unterstützungen finden bereits in verschiedenen Programmen ihre Anwendung: Das Deradikalisierungsprogramm des LKA Bayern beispielsweise unterstützt vulnerable Personen individuell zugeschnitten – z.B. mit Ansprechpartner*innen für den muslimischen Glauben oder durch Hilfe beim Erreichen des Schulabschlusses[13].

Ein weiterer gewichtiger Aspekt ist außerdem die soziale Inklusion, also das Fördern von Zugehörigkeit. Dass die soziale Einbettung von vulnerablen Personengruppen wirkungsvoll sein könnte, zeigte sich kürzlich anhand einer mit einem komplexen algorithmischen Verfahren ausgewerteten Studie, in dem ein geringes Maß sozialer Ausgrenzung der stärkste Prädiktor für eine nicht-radikale Entwicklung war[14]. Bereits historische Deradikalisierungsprogramme nutzten solche Ansätze der sozialen (Re-)Inklusion strategisch: Zum Beispiel beinhaltete die Demobilisierung des „Schwarzen Septembers“ der Palästinensischen Befreiungsorganisation (die Terrorgruppe, die 1972 das Münchner Olympia-Attentat verübt hatte) ganz konkret Anreize zum Gründen einer Familie: Mitgliedern des „Schwarzen Septembers“ wurde in Aussicht gestellt, eine „sorgsam ausgewählte“ Frau zu heiraten und $8.000 für die Hochzeit und das erste Kind zu erhalten[15].

Im Hinblick auf Migration ist in diesem Zusammenhang Integration ein wichtiges Stichwort. Denn diese könnte nicht nur vorbeugen, dass sich vulnerable Personen kurzfristig radikalen Ideen zuwenden, sondern auch in einem längerfristigen Zeitrahmen die Entwurzelung von Menschen der zweiten Generation verhindern. Ein Projekt, das Integration auf eher gesellschaftlicher Ebene zu fördern versucht, ist beispielsweise das vom Bund betriebene Programm „Soziale Stadt“. Mit städtebaulichen Investitionen in Wohnen und Infrastruktur benachteiligter Ortsteile sollen die Chancen auf Teilhabe und Integration gefördert werden[16].

Neumann[17] fordert für den „Kampf an den Wurzeln“ des islamistischen Terrorismus sogar eine Neudefinition europäischer Gesellschaften hin zu einem gesellschaftlichen Pluralismus: Menschen unterschiedlicher Herkunft, Glaubensrichtungen und Hautfarbe müssen sich akzeptiert fühlen. Denn Ausgrenzung führt letzten Endes zur Stärkung radikaler Ideen.

 

[1] NDR (2019, November 13). Urteil im Terror-Prozess: Fast fünf Jahre Haft. NDR Nachrichten. https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Urteil-im-Terror-Prozess-Fast-fuenf-Jahre-Haft,terrorprozess138.html

[2] Hafez, M., & Mullins, C. (2015). The radicalization puzzle: A theoretical synthesis of empirical approaches to homegrown extremism. Studies in Conflict & Terrorism, 38(11), 958-975.

[3] Pfundmair, M., Aßmann, E., Kiver, E., Penzkofer, M., Scheuermeyer, A., Sust, L., & Schmidt, H. (2019). Pathways toward Jihadism in Western Europe: An empirical exploration of a comprehensive model of terrorist radicalization. Terrorism and Political Violence. doi:10.1080/09546553.2019.1663828

[4] Roy, O. (2003). EuroIslam: The Jihad within?. The National Interest, 71, 63-73.

[5] Klausen, J., Campion, S., Needle, N., Nguyen, G., & Libretti, R. (2016). Toward a behavioral model of “homegrown” radicalization trajectories. Studies in Conflict & Terrorism, 39(1), 67-83.

[6] Pfundmair, M. (2019). Ostracism promotes a terroristic mindset. Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression, 11(2), 134-148.

[7] Kruglanski, A. W., Gelfand, M. J., Bélanger, J. J., Sheveland, A., Hetiarachchi, M., & Gunaratna, R. (2014). The psychology of radicalization and deradicalization: How significance quest impacts violent extremism. Political Psychology, 35, 69-93.

[8] Hogg, M. A. (2014). From uncertainty to extremism: Social categorization and identity processes. Current Directions in Psychological Science, 23(5), 338-342.

[9] Pfahl-Traughber, A. (2020). Der Einzeltäter ist ein einzelner Täter: Eine Analyse von Fällen und deren Kontext im Rechtsterrorismus. Kriminalistik, 2020, 74-80.

[10] Doosje, B., Moghaddam, F. M., Kruglanski, A. W., de Wolf, A., Mann, L., & Feddes, A. R. (2016). Terrorism, radicalization and de-radicalization. Current Opinion in Psychology, 11, 79-84.

[11] McCauley, C., & Moskalenko, S. (2008). Mechanisms of political radicalization: Pathways toward terrorism. Terrorism and Political Violence, 20(3), 415-433.

[12] Moghaddam, F. M. (2005). The staircase to terrorism: A psychological exploration. American Psychologist, 60(2), 161-169.

[13] Pfundmair, M. & Schmidt, H. (2019). Der Weg zur Radikalisierung und zurück: Deradikalisierung und seine psychologischen Mechanismen in der Praxis. Praxis der Rechtspsychologie, 29(1), 23-39.

[14] Pfundmair, M., & Lefort-Besnard, J. (2021). An attempt to identify predictive features among Islamist radicals: Evidence from machine learning. . Hal. https://hal.archives-ouvertes.fr/hal-03042809/

[15] Dechesne, M. (2011). Deradicalization: Not soft, but strategic. Crime, Law and Social Change, 55(4), 287-292.

[16] BMI (2020). Soziale Stadt. Städtebauförderung. https://www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/soziale_stadt_node.html

[17] Neumann, P. R. (2016). Der Terror ist unter uns. Dschihadismus und Radikalisierung in Europa. Ullstein.

Bitte zitieren als: Pfundmair, M. (2021). Wie entsteht islamistische Radikalisierung – und wie kann sie verhindert werden? Online abrufbar unter https://www.fachnetzflucht.de/wie-entsteht-islamistische-radikalisierung-und-wie-kann-sie-verhindert-werden